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Interview mit Ilse B. am 21.9.2022 in ihrer Wohnung.
Transkript Peter Wackerlig.

Steiner

Danke, dass Sie mich so früh empfangen. Heute ist der 21.9.2022. Sie haben sich freundlicherweise auf einen Aufruf gemeldet, um über eine Lebenserfahrung zu erzählen, die schon lange zurückliegt. Die Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs war 1975, also das wird jetzt bald 50 Jahre, dass es straffrei ist. Da wir wissen, dass diese Erfahrungen selten verschriftlicht werden, selten weitererzählt werden, haben wir jetzt ein Interviewprojekt gestartet. Super, dass Sie sich gemeldet haben! Jetzt ist die Frage: Was wollen Sie erzählen?

Ilse B.

Ich habe mir gestern überlegt, was ich da erzählen wollte und könnte. Erstens will ich gleich sagen, darüber wurde nie geredet, auch nicht unter Freundinnen, nämlich unter Freundinnen insofern, als es dann vielleicht notwendig war, einmal zu sagen: Kennst du jemanden?

Steiner

Aber erst dann?

Ilse B.

Aber erst dann. Und nachher Schweigen, nie mehr. Ich weiß auch gar nicht, ich weiß von einer Freundin, dass sie eine Abtreibung hatte, aber von den anderen ... Es war merkwürdig. Dann wollte ich damit beginnen, da war ich ungefähr zwölf, da hat meine Mutter zu mir gesagt: Komm, wir gehen zur Mitzi ins Weisert. Ins Weisert gehen heißt, dass man eine Frau, eine junge Mutter besucht, die ein Baby hat, und ihr etwas bringt. Okay, ich war ungefähr zwölf, ich denke, ich war zwölf, und ins Weisert sind wir zur Mitzi gegangen. Die Mitzi war ... Mein Vater war Direktor einer landwirtschaftlichen Fachschule mit einem Internat, und sie war die Köchin und Wirtschafterin gewesen. Sie war es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Ich hab nie gefragt, warum sie es nicht mehr war, aber ich nehme an, es war wegen des Kindes, dass sie aufhören musste oder wollte; keine Ahnung, das weiß ich eben nicht. Wir sind also zu ihr ins Weisert gegangen, das war so, da war diese Fachschule, das war in Kärnten, und ungefähr eine Viertelstunde Weg, da hat sie gewohnt. Ich weiß nicht, ob sie dort ständig gewohnt hat, ob sie da eine Haustochter war, es war jedenfalls ein Bauernhof. Sie hatte ein Zimmer, wir kommen in das Zimmer, es war ziemlich kahl, es war kalt, es war so Vorfrühling, es war jedenfalls kalt im Zimmer und es war ziemlich leer. Ich erinnere mich an vielleicht einen Stuhl. Da waren eben sie, die Mitzi, und das Baby. Wir haben das Baby bewundert und so weiter, und dann hat die Mitzi zu weinen begonnen. Meine Mutter hat sie getröstet, und ich hab dann so mitgekriegt, ja, der Mann. Ich wusste, es ist ein Gastwirt, der sie natürlich nicht geheiratet hat. Da hat sie eben geweint. Das heißt, für mich als Kind war klar, als Zwölfjährige war klar, das ist nichts Gutes.

Steiner

Ein lediges Kind, oder überhaupt ein Kind?

Ilse B.

Überhaupt.

Steiner

Überhaupt ein Kind ist nichts Gutes?

Ilse B.

Nein, nein, ein lediges Kind, gar nicht gut. Es wurde aber nicht weiter darüber geredet. Gut, das wollte ich Ihnen erzählen. Das Nächste ist, ich kam dann in das Gymnasium, da war ich schon 15. Kurz war ich Fahrschülerin und hab in der Klasse dort eine Mitschülerin gehabt, mit der ich mich sofort befreundet hab. Das war eine interessante junge Frau, die hat Ihnen in gewisser Weise ähnlich gesehen, die hat nur dunkle Augen gehabt. Die war aus dem Gailtal. Die war nicht Fahrschülerin wie ich, sondern die war in Kost in Klagenfurt. Das bedeutete, dass sie dort ziemlich allein war. Das war auch gar nicht gut. Wir haben uns befreundet, ich bin nach wie vor mit ihr befreundet, haben eine ganz enge Freundschaft geschlossen, ich war geradezu verliebt in sie, und eines Tages eröffnet sie mir: Du, ich kriege ein Kind. Sie hatte einen Freund, ich auch, aus derselben Klasse, drei Jahre älter.

Steiner

Wie alt war sie da, 15, 16?

Ilse B.

Nein, ich glaube, sie war 16? Ja, ungefähr. Kurz gesagt, sie hat einen Arzt gefunden. Ich nehme an, dass es der Vater einer Mitschülerin war. Der war Arzt, und ich nehme an, dass es der war, aber ich weiß es nicht sicher. Ich hab aber damals Tagebuch geführt und was ich da eingetragen hab; ich war geschockt und ich war entsetzt: Was ist jetzt mit meiner Freundin und so weiter?

Steiner

Also Sie haben Angst gehabt, dass Sie die Freundin verlieren oder dass sich das Leben so ändert?

Ilse B.

Dass ich die Freundin verliere, nein. Nein, es war die Schande. Es war die Schande, nicht irgendwelche sachlichen Schwierigkeiten, sondern die Schande, ja, ein Makel.

Steiner

Die Frauen haben ja dann meistens allein fürs Kind sorgen müssen und haben es ja auch meistens getan.

Ilse B.

Natürlich haben sie es getan, na klar. Was hat die Mitzi getan? Die ist dann, sobald es möglich war, in Saison gegangen. Na klar. Das Kind ist im Übrigen aufgewachsen, und sie hat dann geheiratet und hat dann noch, glaube ich, zwei oder drei Kinder bekommen. Sie hat einen Schüler der Schule geheiratet, der in Kanada Geld gemacht hat. Kurz gesagt, das waren dann ganz respektable Leute, die sich ein Haus gebaut haben.

Steiner

Die Geschichte ging gut aus.

Ilse B.

Ja, ja, die Geschichte ging gut aus.

Steiner

Aber im Moment ist es natürlich ein Irrsinn.

Ilse B.

Nein, es waren nicht die materiellen oder weiß Gott was Schwierigkeiten oder Probleme, die sich da stellen. Das war es nicht, sondern es war einfach ein lediges Kind.

Steiner

Die gesellschaftliche Ächtung.

Ilse B.

Ja.

Steiner

Man hat praktisch die Reputation verloren, das Ansehen. War man dumm?

Ilse B.

Ja, das Merkwürdige ist, ich weiß es nicht. Das Merkwürdige ist, es haben ja reihum die Frauen ledige Kinder gekriegt.

Steiner

Gerade am Land war ja die Zahl hoch.

Ilse B.

Vielleicht erklärt sich das, ich war das nicht. Meine Eltern sind Wiener und meine Eltern waren ja nicht Bauern, die waren nicht irgendwie Landwirte oder Gastwirte oder so etwas, sondern mein Vater war eben Akademiker, meine Mutter auch. Vielleicht erklärt sich das, meine Angst erklärt sich vielleicht auch daraus, dass wir nicht ... Da gab es keine große Familie, wo das Kind dann eben so mitläuft. Das gab es alles nicht.

Steiner

Da hätte also wirklich jemand abgestellt werden müssen.

Ilse B.

Ja, aber ich erinnere mich auch an die Angst meiner Freundin. Diese Angst betraf also nicht nur mich.

Steiner

Ja, klar. Meine Mutter hat gesagt, dass die Frauen damals permanent in einem Angstzustand waren, ob es sich ausgeht oder nicht. Je nach Verhütungsmethode, aber das war ja auch nicht so verlässlich.

Ilse B.

Genau. Das Dritte, was ich Ihnen erzählen wollte: Ich bin nie aufgeklärt worden. Meine Eltern haben darüber nie geredet. Ich hab in den letzten drei Jahren die Erinnerungen an meine Mutter aufgeschrieben und da hab ich natürlich Briefe entdeckt. Ich habe ein Fotoalbum aus einem Sommer entdeckt, das ist eine einzige Liebeserklärung meines Vaters, wo er, wie soll ich sagen, blüht, aber auch vor Begierde. Entschuldige, ich finde gar keinen Ausdruck dafür, weil darüber nie geredet wurde.

Steiner

Wie hat er sich ausgedrückt?

Ilse B.

Eindeutig, also schon verhüllt. Ich habe mir auch überlegt, welche Begriffe ich zum Beispiel für Geschlechtsverkehr Ihnen gegenüber wählen sollte und habe mir gedacht, das Einfachste ist, miteinander schlafen. Alles andere habe ich gar nicht gebraucht und käme mir auch irgendwie doof vor.

Steiner

Was hat man damals gesagt?

Ilse B.

Miteinander schlafen. Zumindest für mich war das der gängige Begriff, oder miteinander ins Bett gehen. Kurz gesagt, ich hab meine Eltern nie in einer zärtlichen Situation gesehen, nie. Ich weiß nicht, warum. Das mag auch eine Kriegsfolge sein. Ich will mich jetzt nicht zu lange darüber verbreiten, ich will nur darstellen, dass ich in der Hinsicht nie aufgeklärt wurde. Als ich die Menstruation bekam, hat mir meine Mutter erklärt, okay, das ist jetzt so. Ich war darüber ein wenig befremdet, aber okay, das war dann nicht so schlimm für mich. Wie gesagt, miteinander schlafen, es wurde nie darüber geredet, auch in der Schule natürlich nicht. Was ich erfahren habe, das war über die anderen Kinder, schon früh.

Steiner

Über die Bauernkinder?

Ilse B.

Ja, ich hab da eben am Land mit anderen Kindern gespielt, und wir haben Zusammenstecken gespielt. (Lacht.) Entschuldigung.

Steiner

Ja, das machen Kinder, die spielen das. Das ist ja ganz normal.

Ilse B.

Ja, ja. Ich hab da auch gezeichnet. Ich hab Zeichnungen gemacht, ich erinnere mich, schon in der Volksschule. Das war ja nichts Unbekanntes.

Steiner

Man hat es nicht auf sich selber oder aufs Menschliche übertragen können, oder wie war das?

Ilse B.

Nein, vor allem nicht auf eine Ebene, wo man damit vernünftig umgehen kann, wo man einfach sagen kann, okay, ich bin nicht verheiratet, das heißt, ich muss irgendwie etwas tun, damit ich kein Kind kriege. Also ich hab auch über Verhütung nichts erfahren, gar nichts, und das bis in mein weiß Gott was, ach Gott, ich würd fast sagen, bis in mein 24. Jahr. Das klingt heute geradezu unglaublich.

Steiner

Ich höre das immer wieder, dass auch Kondome ein sehr schlechtes Image hatten.

Ilse B.

Die hatten gar kein Image bei mir, ich wusste es einfach nicht, ich hab keine gekannt.

Steiner

Die Männer haben sie auch nicht gerne benutzt, die haben wenig oder ungern Verantwortung für die Verhütung übernommen.

Ilse B.

Die sind gar nicht auf die Idee gekommen, zu fragen. Ah ja, auch mit den Männern wurde darüber nie geredet, aber nie, überhaupt nicht. Die Freundin hat mit 16 dann einen Arzt gefunden, der abgebrochen hat. Damit war das Problem quasi beseitigt.

Steiner

Da hat sie aber auch nichts erzählt davon?

Ilse B.

Nein.

Steiner

Das war dann einfach nur, sie kriegt kein Kind?

Ilse B.

Ja, sie hat einen Arzt gefunden, es wurde also abgetrieben.

Steiner

Wurde das dann schon so genannt damals?

Ilse B.

Da bin ich mir nicht ganz sicher, das weiß ich nicht.

Steiner

Es war ja noch verboten. Hat man da eigentlich auch Angst vor einer Strafverfolgung gehabt?

Ilse B.

Ja, natürlich, klar.

Steiner

Nicht nur vor der Schande?

Ilse B.

Nein, nein, klar. Natürlich, das durfte niemand wissen.

Steiner

Das wusste man schon? Angst vor Denunziation haben ja auch die Ärzte sehr stark gehabt, was ich so mitgekriegt hab, also dass die von anderen erpresst worden sind.

Ilse B.

Das weiß ich nicht.

Steiner

Oder war die Angst vor Infektionen größer als die Angst vor der Strafverfolgung?

Ilse B.

Na ja, schwer zu sagen, weil, Infektion, ich glaube, die Idee ist mir gar nicht gekommen. Eh gut, wenn man nicht alles weiß. (Lacht.)

Steiner

Ich denke nur, diese Abbrüche haben ja oft sehr schreckliche Folgen für die Frauen gehabt.

Ilse B.

Natürlich, klar.

Steiner

Sie habe es ja oft selber probiert oder Stricknadeln eingeführt, oder weiß Gott was ist da alles gemacht worden. Tee ist getrunken worden.

Ilse B.

So ganz, dass da gar nicht darüber geredet wurde, stimmt natürlich nicht, denn ich habe eine Abtreibung gemacht. Da war ich dann, glaube ich, 23 oder 24. Da hab ich einen Arzt gefunden. Das heißt, es muss schon darüber geredet worden sein, nämlich insofern: Kennst du jemand? Was könnt ich denn machen? Ich hab auch gewusst, dass man zum Beispiel irgendwo runterspringen muss oder dass man Rotwein trinken muss mit, weiß Gott was, Rosmarin, glaube ich.

Steiner

Das waren die frühen Versuche? Hat man das probiert?

Ilse B.

Nein, nein. Mit anderen Worten, es muss schon darüber geredet worden sein, aber eben immer so ... Wo waren wir?

Steiner

Sie waren 23.

Ilse B.

Genau, da war ich in Wien. Ich bin 44 geboren, vielleicht war das 1968, vielleicht 67, ich denke, es war noch vor 68, ganz sicher.

Steiner

Ja, wenn Sie 44 geboren sind und 23 waren, dann war es 67.

Ilse B.

Ja, es war ganz sicher vor 68, obwohl ich an 68 selber keine so große Erinnerung habe. Erst dann 70 ungefähr oder 69. Ich erinnere mich an 68 in Wien überhaupt nicht. Das ist irgendwie an mir vorbeigegangen.

Steiner

Sie sind mit 18 dann nach Wien?

Ilse B.

Mit 19, ich bin aus der Hauptschule ins Gymnasium und habe dabei ein Jahr sozusagen verloren. Na, verloren nicht, aber ich habe es doppelt gemacht. Ich war 19. Wie komme ich da jetzt hin?

Steiner

Wieso sind Sie nach Wien, was war der Grund?

Ilse B.

Als Studentin, in die Wohnung.

Steiner

Was haben Sie studiert? Sie wohnen immer schon hier?

Ilse B.

Meine Eltern haben dann hier gewohnt, und ich habe das eben geerbt und wohne jetzt hier. Ja, sehr schön, sehr schön.

Steiner

Wieso sind die Eltern aus Kärnten nach Wien gegangen?

Ilse B.

Weil sie Wiener waren. Meine Eltern waren Wiener.

Steiner

Sie wollten dann wieder zurück?

Ilse B.

Ja, meine Mutter wollte zurück, aber das ist eine eigene Geschichte. (Lacht.)

Steiner

Sie kamen mit 19 nach Wien?

Ilse B.

Ich kam mit 19 nach Wien und war da eben Studentin. Um es jetzt kurz zu machen, ich hab immer ... Wie soll ich das sagen? Liebesbeziehungen waren für mich immer sehr kompliziert. Das war für mich immer ... Einerseits wollte ich das immer haben. Es gab dann auch Jahre, wo ich dann schon ein bisschen befreiter war, wo es dann schon die Antibabypille gab, wo ich dann gesagt habe: Ein Sommer ohne einen Aufriss, das ist kein Sommer. Da war ich dann sehr clever, sehr selbstbewusst, aber da war ich auch schon über 30. Kurz gesagt, ich wollte immer mit einem Mann ins Bett gehen, um es ganz deutlich zu sagen, und habe mich gleichzeitig auch fürchterlich davor gefürchtet. Ich habe immer das Gefühl gehabt, ich verliere mich da. Ich war ja auch nie verheiratet. Entschuldige, ich verwirre mich da jetzt etwas und komme nicht zu dem, was ich eigentlich sagen will. Kurz gesagt, ich hab da einfach - wie sagt man da dazu? - Bekanntschaften gehabt. Oder wie sagt man da? One Night Stands, oder so.

Steiner

Liebeleien?

Ilse B.

Liebeleien. Das waren gar keine Liebeleien. Ist egal.

Steiner

One Night Stand war in der Zeit aber ja noch kein Begriff? Hat man das schon gesagt? Nein.

Ilse B.

Nein, um Gottes Willen, nein. Den Begriff gab es natürlich gar nicht. Kurz gesagt, es gab da mehrere, und von einem bin ich dann schwanger geworden. Natürlich keine Idee, also die Idee, den zu heiraten - das gab es für mich dann nicht mehr. Hat es das jemals gegeben? Ich wollte dann schon einmal heiraten, ich habe einem jungen Mann den Heiratsantrag gemacht, aber das war auch etwas später. Nein, also ganz komisch, das läuft eigentlich ganz komisch bei mir. Ich wollte nie heiraten.

Steiner

Aber da waren Sie ja eigentlich in der richtigen Zeit?

Ilse B.

Natürlich, das kam mir entgegen: kein Büstenhalter, keine Heirat. Natürlich, das ist ja klar.

Steiner

Da haben Sie eigentlich ein Glück gehabt, denn 20 Jahre vorher wäre das schwieriger gewesen.

Ilse B.

Ja, die Sechzigerjahre waren unmöglich, das war nicht zu ertragen. Nein, nein, die Siebziger waren dann - da bin ich auf der Welle geschwommen.

Steiner

Aber wir sind noch nicht in den Siebzigerjahren, wir sind noch im Jahr 1967.

Ilse B.

Kurz gesagt, ich hab dann irgendwie, das weiß ich nicht mehr, die Telefonnummer einer Frau gefunden, mit der ich mich dann getroffen hab. Da weiß ich nicht mehr genau, was mir die vermittelt hat. Hat mir die wirklich den Arzt vermittelt oder nicht? Das weiß ich nicht mehr genau. Ich hab mich jedenfalls mit ihr auf dem Elterleinplatz bei der Telefonzelle getroffen. Da hat sie mir eine Adresse genannt, aber ich bin nicht sicher, dass ich dort hingegangen bin. Ich glaub nämlich, dass ich auf irgendeine andere Art und Weise einen Arzt gefunden hab, ich weiß aber nicht mehr wie. Kurz gesagt, es war ein Arzt, der das dann wirklich auch als Arzt gemacht hat, sodass es keine Folgen gab. Ich vermute das, ich weiß es nicht mehr genau. Es war eine absurde Situation.

Steiner

War das ein Gynäkologe oder ein praktischer Arzt?

Ilse B.

Nein, das war ein praktischer Arzt. Das war kein Gynäkologe, nein, er hatte aber diesen Stuhl, also vielleicht war es doch ein Gynäkologe, keine Ahnung. Irgendwo im 17., ich weiß natürlich den Namen nicht mehr, ich weiß auch die Adresse nicht mehr. Ich hab ihm 3.000 Schilling gezahlt, das war damals viel Geld. Das hatte ich mir erarbeitet, weil ich in einer Milchbar am Klopeiner See einen Monat lang serviert habe.

(Kurzes Gespräch über St. Kanzian)

Steiner

Und den Eltern haben Sie gar nichts gesagt?

Ilse B.

Nein, nein, um Gottes Willen.

Steiner

Sie haben gesagt, das wussten nur Sie?

Ilse B.

Ja.

Steiner

Sie haben das mit sich selber ausgemacht?

Ilse B.

Ja.

Steiner

Ohne Freundin, ohne ...

Ilse B.

Da bin ich mir nicht sicher, weil ich ja irgendwie zu dieser Frau gekommen sein muss.

Steiner

Aber ausgemacht haben Sie es mit sich selber?

Ilse B.

Ja. Nein, nein, das weiß nur die eine Freundin, von der ich schon erzählt habe. Die andere wusste das gar nicht, die ist inzwischen gestorben, die wusste das nie. Nein, darüber… Die Gailtalerin kann ich ja jetzt mit Namen nennen, die heißt Karin. Ich habe mit Karin mein Leben lang nicht mehr geredet. Ganz eigenartig. Sie hat dann geheiratet, sie hat zwei Kinder bekommen, aber es war nie ein Thema.

Steiner

Obwohl es eigentlich so nahe am Körper ist?

Ilse B.

Was heißt am - im Körper! Es ist ganz merkwürdig. Deswegen habe ich mir auch gestern gedacht, ich habe das vorgestern entdeckt, das ist eigentlich eine gute Idee, einmal darüber zu reden. Wie werden Sie das verwerten?

Steiner

Es geht darum, erstens einmal diese Erinnerungen zu dokumentieren, auch in Hinblick darauf, dass die eben nicht verschriftlicht und nicht weitergegeben wurden. Was hat so viele Frauen beschäftigt, geängstigt, auch in gewisser Weise niedergehalten, weil die Angst ja etwas ist, was auch sehr lähmen kann? Wie wurde das dann gesellschaftlich verhandelt? 2025 wird sich ja die Fristenlösung zu 50. Mal jähren, und da macht man halt dann meistens Artikel oder Ausstellungen. Sie können das ja auch anonymisieren lassen, aber es geht eigentlich darum, dass Frauen eben so wenig davon erzählt haben. Lustigerweise treffe ich ja Töchter in Ihrem Alter, die sagen: Ich hab schon gewusst, dass meine Mutter Abtreibungen gehabt hat, weil es ja auch nicht anders möglich war. Ich meine, die haben ja schon ziemlich mit zwei oder drei Kindern gekämpft. Wenn du dann mit 40 noch einmal schwanger wirst, dann bist du ja verzweifelt. Mich berührt immer so diese große Verzweiflung und Einsamkeit und wie stark dann aber doch auch die Frauenbewegung auch in dieser Männergesellschaft etwas bewegt hat. Das Schockierende jetzt ist, wenn das rückgängig gemacht werden soll, dass das noch immer so ein Thema ist, wenn man nach Ungarn oder nach Amerika schaut, dass das noch immer so ein heißes Thema ist und noch immer in einzelnen Staaten anders behandelt wird. In Amerika, das ist ja unglaublich. War damals eigentlich für Sie eine Option, ins Ausland zu fahren?

Ilse B.

Nein, ich wusste davon gar nichts.

Steiner

Mit Narkose?

Ilse B.

Nein, nein.

Steiner

Hat das nicht wahnsinnig wehgetan?

Ilse B.

Nein, ich erinnere mich nicht an riesige ... Ja, aber es war nicht weiß Gott wie. Vielleicht habe ich einfach Glück gehabt.

Steiner

Wie war das mit den Tests? Tests hat es ja keine gegeben, wie hat man Schwangerschaft festgestellt?

Ilse B.

Nein. Das Ausbleiben der Menstruation, ganz einfach.

Steiner

Da hat man sich schon ausgekannt.

Ilse B.

Ja. Meine Aufklärung - mit wem hab ich denn darüber geredet? Ja, ja, das wusste ich dann schon. Vielleicht hat mir meine Mutter ... Ich kann mich eigentlich nicht daran erinnern, aber vielleicht hat sie mir doch irgendwie deutlich gemacht, dass das mit dem Kinderkriegen zusammenhängt.

Steiner

Hat man da einen Kalender geführt, dass man das gewusst hat, wann man die Regel gehabt hat?

Ilse B.

Nein, mit 20. Kalender hab ich dann später eine Zeit lang geführt.

Steiner

Aber dann war das ein Bauchgefühl, dass man sich gedacht hat, jetzt müsste ich wieder die Regel kriegen? Wenn ich es mir nicht aufschreibe, dann weiß ich es ja nicht, wann ich das letzte Mal die Regel gehabt habe. Oder hat man doch ein Kreuzel im Kalender gemacht?

Ilse B.

Also ich habe schon, aber ich glaube nicht, schon zu dieser Zeit, schon mit 22 oder so. Ich glaube, das war erst später. Ich weiß es nicht.

Steiner

Na gut, man kann sich ja nicht an alles erinnern. Das hat 3.000 Schilling gekostet?

Ilse B.

3.000, ja, ja.

Steiner

Und das ging so bar über die ...

Ilse B.

Das ging so.

Steiner

Im Kuvert?

Ilse B.

Ja, ich weiß nicht, keine Ahnung. Ich erinnere mich auch nicht an viel. Ich glaube nicht, dass da viel geredet wurde. Ich erinnere mich nicht einmal wirklich, ob er gesagt hat, dass ich darüber niemandem erzählen soll. Das weiß ich einfach nicht mehr. Ich nehme an, dass er es gesagt hat, aber ich erinnere mich nicht. Ich erinnere mich nur an die kahle Ordination. Es war kalt, es war wiederum kalt. Da war nichts als der Mann, dem ich, glaube ich, auch gar nicht ins Gesicht geschaut habe. Ich erinnere mich da an gar nichts. Ja, und dann muss ich gegangen sein. Merkwürdig eigentlich.

Steiner

Und Sie können sich gar nicht an Schmerzen oder an so etwas erinnern?

Ilse B.

Nein, aber vielleicht hab ich auch einfach Glück gehabt. Ich hab sozusagen mit meinem Unterleib nie Probleme gehabt. Ich weiß es nicht, ich erinnere mich da nicht.

Steiner

Aber er hat Sie jedenfalls medizinisch gut versorgt, das war nicht gefährlich in dem Sinn, was ja auch hätte sein können?

Ilse B.

Nein. Ja, natürlich, klar.

Steiner

Und danach: Hat es für Sie etwas im Bewusstsein oder im Denken oder im Fühlen verändert?

Ilse B.

Ich oder wir alle waren dann heilfroh, wie dann die Pille erlaubt war.

Steiner

Das war 69?

Ilse B.

Das war spät irgendwann einmal. Wir waren da heilfroh, und daran kann ich abmessen ... Es war so unterschwellig, diese Angst, denn die hat ja nie bewirkt, dass ich mein Handeln geändert habe. Es hat ja nicht dazu geführt, dass ich mich erkundigt hab, was kann ich denn machen oder gibt es irgendwas. Es hat bei mir auch nie zu einem politischen Handeln geführt. Ich bin spät erst mit meiner anderen Freundin dann zur AUF gegangen. Da sind wir dann mitmarschiert, Fristenlösung, da sind wir natürlich mitmarschiert. Aber vorher, es ist ganz eigenartig.

Steiner

Als Studentin noch waren Sie da dabei?

Ilse B.

Ja, ja, natürlich war ich da als Studentin. Ich hab erst sehr spät zu arbeiten begonnen. Wann war es denn? (Lacht.) 1971 habe ich zu arbeiten begonnen. Da war ich immerhin schon 27.

Steiner

Was haben Sie studiert?

Ilse B.

Deutsch und Geschichte als Lehramt.

Steiner

71 haben Sie angefangen zu arbeiten? Das ist doch nicht spät.

Ilse B.

O ja, ich war 27. Meine Freundin hat zu mir gesagt, Karin hat zu mir gesagt: Du, die Eltern kriegen keine Familienbeihilfe, wir müssen arbeiten gehen. Sonst wäre ich gar nicht gegangen.

Steiner

Hätten Sie weiter studiert, oder wie?

Ilse B.

Ja, so weiter. Ich meine, das war ja ein schönes Leben.

Steiner

Das Studium?

Ilse B.

Nein, das Studium war schlecht in Wien, aber ich habe auch nie versucht, irgendwo anders hinzugehen. Nein, ich hab Theater, ich hab Schauspiel gelernt. Ich wollte Schauspielerin werden und hab auch Theater gespielt. Es war dann eine Theatergruppe, wir sind aufgetreten, wir haben Aufführungen gehabt, also das war einfach lustig.

Steiner

Eine gute Zeit?

Ilse B.

Das war dann übrigens auch die Zeit mit dem Theater, wo mein Verhältnis ... Das war mit der Antibabypille. Es kam eine ungeahnte Freiheit. Ja, es ist einfach ... Ich erinnere mich an eine ungeheure Dumpfheit in den Sechzigerjahren. Mein Gott, was ich auch damals teilweise wollte. Ich hatte so gar keine Vorstellung. Ich glaube wirklich, mit der Antibabypille kam die Vorstellung: Ich will nicht heiraten, ich will eigentlich auch gar keine Kinder haben und ich teile mir das jetzt selber ein. Ich kann das gar nicht in Worte fassen, ja, das gelingt mir irgendwie nicht.

Steiner

Eine unfreie Zeit, oder wie kann man das nennen?

Ilse B.

Ja.

Steiner

Und dann sind Sie Lehrerin geworden?

Ilse B.

Ja. Das mit dem Theaterspielen ging nicht mehr, beides zusammen war unmöglich.

Steiner

Das war eine freie Theatergruppe?

Ilse B.

Das war eine freie Theatergruppe, und wir haben natürlich von 8 Uhr in der Früh bis um Mitternacht geprobt. Das konnte ich dann natürlich nicht mehr. Dann ist die Gruppe auch auseinandergegangen, und ich hab dann begonnen, zu unterrichten.

Steiner

Das ist aber schon lustig: Wir kriegen keine Kinderbeihilfe mehr, jetzt müssen wir was arbeiten. (Lacht.) Sehr unbekümmert eigentlich?

Ilse B.

Ja. Wenn ich da von Angst rede, wir waren ungeheuerlich unbekümmert. Es gab ja auch, ganz anders als heute, keine Sorgen. Wir wussten, wir würden eine Arbeit finden, wir wussten, wir würden bezahlt werden, wir wussten, es würde alles besser werden. Es war zumindest für mich eine ungeheuerlich sorgenlose Zeit.

Steiner

Für junge Leute. Es ist ja lustig, denn es sind die im Krieg oder kurz nach dem Krieg Geborenen, die offenbar dann das Leben so genossen haben, diesen Aufbau?

Ilse B.

Nicht nur wir, auch meine Eltern. Mein Vater war ja kein junger Mann mehr, meine Mutter war ja auch keine junge Frau mehr, aber sie hatten dann schon noch einmal ein Leben, gute Jahre. Gott sei Dank.

Steiner

Da muss man eigentlich schon froh sein.

Ilse B.

Ja. Es ist fast unvorstellbar.

Steiner

Im Vergleich zu heute ist das ja eine Generation ...

Ilse B.

Die ungeheures Glück hatte.

Steiner

Ja, doch lange Zeit ohne diese Existenzängste.

Ilse B.

Ohne Existenzängste. Nicht nur Existenzängste, sondern, wie soll ich sagen, wirklich auch Weltängste, die jetzt die jungen Leute ganz sicher haben. Die Umwelt, der Krieg, die Krankheiten. Und wir waren gegen Kinderlähmung geimpft, natürlich gegen Pocken, Diphterie und Scharlach waren kein Problem, Cholera gab es auch nicht mehr.

Steiner

Scharlach war auch ganz schlimm.

Ilse B.

Ja, auch Masern, aber das gab es nicht mehr. Dann gab es auch noch die Pille. Dann wurde die Abtreibung legalisiert. Was gibt es denn noch? Ja, es gab Posten. Im Gegenteil, ich habe ja begonnen zu unterrichten, ich war noch gar nicht fertig. Ich bin dann eben zum Landesschulrat gegangen, da ist mir auf dem Gang ein Schuldirektor aus Vorarlberg entgegengekommen: Kommen Sie bitte zu mir nach Vorarlberg. Ich Blödianin hab das nicht angenommen, ich wollte nicht nach Vorarlberg, blöd wie ich war.

Steiner

Warum?

Ilse B.

Ich hätte eine Wohnung dort gehabt, die hätten mir die Fahrten nach Wien gezahlt, die hätten mich, glaube ich, besser bezahlt als in Wien, und ich hätte dort einmal drei Jahre woanders leben können. Ich hätte mich ja nicht zeitlebens binden müssen. Nein, ich wollte nicht, blöd wie ich bin, wie ich war.

Steiner

Vielleicht war das eben eh gut. So im Sinne, kommen Sie zu mir, das ist doch schön?

Ilse B.

Eben. Ich habe ja auch sofort eine Stelle gefunden, ich war noch gar nicht fertig. Das Problem gab es überhaupt nicht. Na ja.

Steiner

Und dann waren Sie eine junge Lehrerin?

Ilse B.

Dann war ich eine junge Lehrerin, ja. Da war ich nicht besonders glücklich, weil ich doch eigentlich Theaterspielen wollte; aber ja. Ich habe doch einige Jahre gebraucht, um das zu akzeptieren. Ja, aber dann ging es eh. Zu Ende meiner beruflichen Tätigkeit habe ich dann mit Schülern Theater gespielt. Da hatte ich dann die Gelegenheit, da war ich dann wirklich super glücklich. Da gab es dann jedes Jahr am Schulende eine Aufführung, die ich eben mit Schülern gemacht habe. Das war dann sehr schön. (Erzählt kurz über Bühnenspiel)

Steiner

Ich denke mir nur, weil Sie sagen, Österreich war so muffig: Es gibt ja dann auch Leute, die sagen, ich gehe dorthin, wo es nicht so muffig ist.

Ilse B.

Ja, ja, natürlich, klar. Das hab ich dann schon gemacht, ich bin dann Gott sei Dank auch einmal weg. Nein, ich glaube ich war auch eine Nesthockerin, aber ich hab mich dann mit ... Da war ich so unglücklich verliebt, da war ich wirklich am Rande der, ich weiß nicht was. Da hab ich mich daraus gerettet, dass ich eben weg bin für eine Jahr lang nach Frankreich. Das war eben 70, nein, das war 73. Mein Gott, bin ich blöd, von wegen 70, das war erst 73. Es hat alles unheimlich lang gedauert. Aber um es jetzt kurz zu machen, ich war dort Deutschassistentin an einer Schule. Das war gerade das Jahr, wo die Wahl war. Die Kollegen haben mich zu Wahlveranstaltungen mitgenommen. Das war ein richtiger Augenöffner für mich. Plötzlich habe ich gesehen, okay, ich kann Lehrerin sein, aber ich kann trotzdem ein politischer Mensch sein, ich kann trotzdem etwas wollen und dürfen. Vielleicht, entschuldigen Sie, das kommt jetzt alles durcheinander, vielleicht muss man erklären: Meine erste Stelle war in Baden an einer Schule für Mädchen. Das war eine Schneiderfachschule und so eine Frauenberufsschule. Da gab es eine Lehrerschaft, das waren lauter Frauen, und es gab einen einzigen Mann. Die Direktorin war sehr katholisch. Ich hab das in so grauenhafter Erinnerung, das war so ein Verein, so ineinander ... Es war schlimm für mich. Und dieser eine Mann war sowas von ...

Steiner

War das der Mathematik- oder der Physiklehrer?

Ilse B.

Ich weiß gar nicht, was der unterrichtet hat. Er war jedenfalls der Liebling von allen, er war so eine Bezugsperson. Er war so schirch, so grauslich. Kurz gesagt, ich hab da keine guten Erfahrungen gemacht, sondern es war eben so eine enge Atmosphäre. In Frankreich habe ich eben etwas anderes kennengelernt, da habe ich eben Leute kennengelernt, die nicht so eng waren.

Steiner

Da war das, glaube ich, auch ein bisschen früher mit diesen gesellschaftlichen Umbrüchen.

Ilse B.

Ja natürlich, das war nach 68.

Steiner

Da hat das 68er-Jahr, glaube ich, auch stärker eingeschlagen.

Ilse B.

Ja, sehr. Was wollte ich jetzt eigentlich erzählen? Kurz gesagt, ab da hab ich das Gefühl gehabt, ich bestimme selber mein Leben.

Steiner

Ab Frankreich?

Ilse B.

Ja, das hat mich erwachsen gemacht, Frankreich. Bis dorthin war ich irgendwie ... Ich bin eine relativ ... Wie sagt man? Würde man sagen labil? Also ich bin leicht beeinflussbar. Nein, das trifft es nicht. Ich war einfach unerfahren und unerwachsen.

Steiner

Haben Sie lange bei den Eltern gewohnt?

Ilse B.

Ja, ja, eine Nesthockerin in gewisser Weise.

Steiner

Nie in WGs gezogen?

Ilse B.

Doch, doch, aber alles erst ... Wie war das? Ich habe ja da allein gewohnt. Nein, nein, in eine WG bin ich dann mit einer anderen Freundin gegangen, da haben wir uns zusammen eine Wohnung gemietet. Wann war das eigentlich? Ja, das war nach Frankreich, genau. Da kam sie aus Berlin zurück, und ich war eben auch nach Frankreich. Da haben wir dann zusammen eine Wohnung gemietet. Da sind wir dann eben, wie gesagt, zur AUF. Ich erinnere mich an die Marie-Thérèse Escribano, wie sie mit der Trommel bei der Demo gegangen ist. Ich weiß nicht, worum es da ging, keine Ahnung.

Steiner

Diese Aktionen, 1972 auf der Mariahilfer Straße mit Erika Mis: Die gilt als so berühmt. Das war eine Aktionskünstlerin, die hat sich in einen Käfig gesperrt, und vorneweg gingen als Männer verkleidet Priester, Arzt und Pfarrer. Die sind an einem Einkaufssamstag die Mariahilfer Straße runtergezogen. Sie war im Gefängnis mit so einem Gefängnisanzug mit Paragraf 144. Waren das mehrere so?

Ilse B.

Ich weiß es nicht, also 72 war das, glaube ich ... Also das kann nicht 72, da war ich sicher nicht dabei. Das war sicher erst nachher, nach 73.

Steiner

Aber Sie sind selber zur AUF hingegangen, und da gab es ja diese Zeitschrift?

Ilse B.

Da gab es diese Zeitschrift, genau. Wir saßen dort öfter zusammen in der - na, wie heißt die Gasse da bei der Nussdorfer Straße? Keine Ahnung, dieses Kellerlokal. Meine Freundin und ich waren ja beide nicht verheiratet. Wir saßen dort und haben dann den Frauen zugehört. Wir haben uns dann immer amüsiert, dass sich diese Frauen dort ungeheuerlich bitter über ihre Männer beklagen und so weiter. Sie haben sich bitter über ihre Männer beklagt, und meine Freundin und ich sind nach Hause gegangen und haben gesagt: Wir hätten gern einen. (Lacht.)

Steiner

Über den wir uns beklagen können?

Ilse B.

Wir hätten gerne einen, wie wunderbar das sein muss, wenn man sich beklagen kann. Dann waren wir natürlich auch bei diesem anderen Anlass dabei, die Anerkennung der Slowenen als Volksgruppe. Da haben wir uns politisiert, aber vorher - das ist ganz eigenartig. (Kurzes Gespräch über Wohngemeinschaft)

Steiner

Also man fand eine große Wohnung zu einem bezahlbaren Preis?

Ilse B.

Wir hatten eine große Wohnung zu einem bezahlbaren Preis. Wir haben ja beide verdient, und das war kein Problem, nein. Wir sind ja, wir haben ja andererseits auch sehr einfach gelebt. Das war ja nicht so. Ich hab mir Möbel gemacht, ich hab mir Sperrholzplatten beim Tischler gekauft und hab die selber zusammengenagelt, oder keine Ahnung, und das war mein Bett. Dann hab ich mir Matratzen irgendwo besorgt, ich weiß gar nicht wo, und das war eben mein Bett. Dann habe ich, glaube ich ... Den Tisch hat meine Mutter aus dem Dorotheum geholt. Ich meine, Sie sehen ja, ich hab ja keine ... Ich bin ja nach wie vor relativ einfach, und die vielen Möbel, die da herumstehen, sind alle geerbt. Ich hab darauf auch nie einen Wert gelegt. Damit ist eigentlich diese Geschichte zu Ende, denn später war das ja kein Problem mehr. Ich hab dann noch einmal eine Abtreibung gehabt. Ich war da mit einem sehr viel jüngeren Mann liiert, und der wollte zu der Zeit zumindest kein Kind. Ich wollte wiederum kein Kind ohne Vater und Mutter. Ich wollte nicht Alleinerziehende sein. Ich finde das nach wie vor eigentlich nicht erstrebenswert. Wenn es nicht anders geht, dann ist es halt so, aber dass man das wollen soll, das will mir nicht in den Kopf. Aber das war dann kein Problem mehr.

Steiner

Also für Sie ist dieses Familienmodell doch wichtig gewesen in der Vorstellung?

Ilse B.

Nein, nein, einfach nur die Tatsache. Ich weiß nicht, ich wollte nie heiraten, es wäre auch nicht notwendig gewesen, aber doch Vater und Mutter. Zwei Mütter, nein, das kam für mich nicht in Frage. Doch Vater und Mutter.

Steiner

So wie Sie selbst es auch erlebt haben?

Ilse B.

Warum? Ich weiß nicht.

Steiner

Na, ist halt so.

Ilse B.

Ja. Ich glaube einfach, ein Kind braucht den einen und den anderen, zumindest die zwei. Ein Kind braucht wahrscheinlich mehr, aber zumindest die zwei und nicht nur eine.

Steiner

Aber Ihre Eltern machen ja den Eindruck, als ob das ein gutes Aufwachsen gewesen wäre?

Ilse B.

Ja schon, aber ich hab nie das Gefühl gehabt, dass es erstrebenswert ist zu heiraten, wirklich, habe ich nie das Gefühl gehabt.

Steiner

Und Sie sind das einzige Kind, Sie haben keine Geschwister?

Ilse B.

Nein, ich habe eine Schwester, die ist verheiratet, aber ich wollte das nie. Wie gesagt, der wollte dann eben kein Kind haben, und ich habe das eben akzeptiert. Ich habe nicht gesagt, ich krieg das Kind aber. Vielleicht hab ich gefürchtet, dass dann die Beziehung auseinandergeht. Wahrscheinlich war es das auch, ja.

Steiner

Abschlussfrage: Wie haben Sie diesen Wandel des Frauenbildes bei Ihren Schülerinnen erlebt, weil Sie ja doch lange sozusagen beobachten haben können, wie junge Mädchen sich entwickeln?

Ilse B.

Hab ich da irgendwas bemerkt? War das irgendwie ein Thema? Ich erinnere mich, es gab einmal, da ist ein Kollege auf mich zugekommen und hat gesagt: Du, kannst du mir, komm mit mir, ich möchte da nicht alleine sein? Da gab es ein junges Mädchen, ja genau, die war schwanger geworden. Wir haben mit der geredet, mit beiden geredet: Was tun wir denn jetzt? Das war Ende der Achtzigerjahre, nehme ich an, relativ spät, und da war das offensichtlich ein Problem. Ich kann mich an keine Schülerin erinnern, die ein Kind gehabt hätte, aber ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass ich darüber mit den Schülerinnen geredet hätte. Das war eine gemischte Schule. Entschuldigung, ich rede einen Blödsinn, das war zuerst eine Burschenschule, und dann gab es natürlich die Koedukation, also es war dann gemischt. Das war kein Thema, aber ich bin auch nicht die Klassenmutti gewesen. Ich nehme an, dass andere Kolleginnen, ich denke da speziell an eine, sehr wohl mit ihren Schülern darüber geredet haben, aber ich nicht. Ich hab, glaube ich, über Persönliches überhaupt nie geredet. Ich kann mich nicht erinnern…

Steiner

Ja, es gibt aber schon die Klassenvorständinnen, die einen sehr engen Draht zu den Schülerinnen haben?

Ilse B.

Aber ich war das nicht, ich hab das nicht gehabt.

Steiner

Es gibt auch die Fachlehrer, wo man sagt, das ist jetzt …

Ilse B.

Nein, ich war schon Klassenvorstand und ich war das auch gern. Manche waren dann zum Beispiel per Du, aber ich hab das nicht wollen. Ich war da also immer ein bisschen auf Distanz. Insofern kann ich darüber, ich weiß nicht, komisch …

Steiner

Aber es ist ein interessantes Gespräch, vor allem weil Sie Ihre Wünsche so reflektieren. Manchmal weiß man ja, was man nicht will, und das bestimmt das Handeln eher, als das, was man sich wünscht.

Ilse B.

Ja, ich weiß nicht. Ich hab sehr oft nicht das gemacht, was ich wollte, insofern als ich nicht Lehrerin werden wollte. Es geht in meinem Kopf jetzt ein bisschen hin und her. (Lacht.)

Steiner

Es war einfach eine pragmatische Entscheidung, dass sie Lehrerin geworden sind?

Ilse B.

Das war eine ... Pragmatisch, ich weiß nicht.

Steiner

Finanziell war es ja eine kluge Entscheidung, besser als freie Theatergruppe, oder?

Ilse B.

Ja, ja, ganz sicher. Klar, meine erste Frage gegenüber diesen Freundinnen oder Kollegen unter den Schauspielern war immer: Wovon lebst du denn? Also ich hab da offensichtlich ... Ja, doch, natürlich, klar. Da gab es eine ganz große Existenzangst, doch, doch. Ich hab da einmal drüben in der Antonigasse zwei Leute besucht, die haben in einer Wohnung zusammengewohnt, da war das Gas abgesperrt, da war das Licht abgesperrt. Ich weiß nicht, was da in der Wohnung war, es war so Frühsommer, es war ja schon warm, die Wohnung war irgendwie kahl. Ich weiß nicht, wovon die beiden gelebt haben. Hilde Berger, die eben auch in der Gruppe war, die dann Professorin war, hat immer wieder gejobbt. Die wurde immer losgeschickt zum Fischer-Karwin, damit wir wieder ins Radio beziehungsweise dann auch ins Fernsehen kommen. Hilde Berger war eine sehr schöne Frau und sie wurde immer hingeschickt, weil sie eben, wie soll ich sagen, den Fischer-Karwin ein bisschen ... Also mit anderen Worten ...

Steiner

Eingekocht hat.

Ilse B.

Ja, ja. Einer hat sehr schön Flöte geblasen, war ein sehr schöner junger Mann, der hat gedealt. Eine andere ist im Moulin Rouge als Stripteasetänzerin aufgetreten, das war eine sehr schöne junge Frau. Eine Dritte hat nicht nur Striptease, die hat sich prostituiert. Natürlich haben sie alle geraucht, und ich weiß nicht, ob sie auch andere Drogen genommen haben, was ich nie gemacht hab. Gelebt haben sie alle von der Hand im Mund. Ich ja nicht, ich bin ja von den Eltern unterstützt worden. Ja, da war eine große Angst, ja klar. Ich habe diese Angst nicht ausgehalten, ich hätte mir nie vorstellen können, so zu leben, so prekär.

Steiner

Also insofern war es eine pragmatische Entscheidung?

Ilse B.

Ja natürlich. Genau, das Wort prekär kannte ich damals ja auch nicht, aber das wäre das gewesen.

Steiner

Aber es haben auch viele Leute prekär gelebt?

Ilse B.

Ja, die haben alle prekär gelebt, alle.

Steiner

Ja, aber das ist das Tolle, dass man sich damals noch entscheiden hat können, was man will. Jetzt ist man ja als Wissenschaftlerin oft automatisch ...

Ilse B.

Na ja, jetzt sind vor allem Leute prekär, die eigentlich ganz normal arbeiten. Die sind keine Schauspieler und keine Künstler und keine weiß Gott was und verbringen nicht die Nächte irgendwo diskutierend und weiß Gott was und wollen die Welt neu erschaffen, sondern das sind ganz normale Angestellte, und die leben prekär. Ich meine, das ist das Bittere. Dass diese Künstler prekär gelebt haben, ist auch ... Nein, das ist jetzt ein Blödsinn, was ich jetzt – es ist keine Bedingung für die Kunst. Da akzeptiert man es aber, weil der Drang, etwas zu schaffen, so groß ist, dass man das auf sich nimmt. Aber wenn man nichts schaffen will, wenn man einfach nur hackelt und leben will, dann ist das Prekariat ja etwas Schreckliches.

Steiner

Ich glaube, auch je älter man wird, ist es umso unlustiger.

Ilse B.

Na ja, davon abgesehen, natürlich, klar. Auch wenn es da Lebenskünstler gibt. Nein, aber wenn man ein künstlerisches Ziel vor Augen hat, dann ist man ja irgendwie ... Das trägt einen ja auch. Aber wenn man das nicht hat, dann - was hat man denn dann, wenn man nicht einmal ein Geld hat? Nein, nein, insofern war dieses Prekariat ... Kurz gesagt, ich für mich hätte das nicht ertragen. Nein, nein, das hätte ich nicht ertragen. Das hätt ich nicht können.

Steiner

Aber Sie haben dann doch sehr selbstbestimmt entschieden trotz aller Zögerlichkeit, weil Sie gesagt haben, Sie ...

Ilse B.

Ja, ich hab mich dann schon entschieden, ja. Es hat nur gedauert, bis ich es dann auch mochte.

Steiner

Dann haben Sie sich also schon mit dem Beruf versöhnt?

Ilse B.

Ja, ja, ich hab mich durchaus versöhnt. Nein, im Gegenteil.

Steiner

Sind Sie schwer in Pension gegangen?

Ilse B.

Nein, überhaupt nicht, nein.

Steiner

Manche Lehrerinnen - ich habe unlängst eine interviewt, die gesagt, es war ganz schwer. Sie war so gerne Lehrerin, 40 Jahre lang.

Ilse B.

Nein, das nein. Es ging mir die letzten zwei Jahre gesundheitlich nicht mehr so besonders. Ich habe nichts mehr gefürchtet, als krank in Pension zu gehen. Ich hab mir gedacht, um Gottes Willen, hoffentlich schaffe ich das noch, aber ich wusste, wenn ich das noch länger machen müsste, dann müsste ich das Unterrichten aufgeben. Ich hab nicht mehr so gut gesehen, ich hab nicht mehr so gut gehört. Mir ist dieser ständige Lärm unheimlich auf die Nerven gegangen, und es war mir unendlich langweilig, weil ich immer wieder erklären musste: Der dritte Fall und der vierte Fall; es heißt nicht wir schaffen sich und so weiter, sondern wir schaffen uns oder einander. Kurz gesagt, es ist mir so rausgestanden.

Steiner

Man hat dann irgendwann genug.

Ilse B.

Auch Literatur, was ich ja mochte, hat mich dann auch nicht mehr ... Irgendwie hab ich da auch das Gefühl gehabt, die Schüler sind da, und ich bin da irgendwo. Mein Interesse und das Interesse der Schüler waren nicht mehr kompatibel.

Steiner

Dann war es eh gut?

Ilse B.

Ja, es war gut, es war sehr gut, dass ich in Pension gehen konnte. Mich haben die Schüler auch nicht mehr interessiert. Es war einfach, ich war zu alt geworden. Aber einige Jahre war es schon in Ordnung.

Steiner

Ja, toll. Ich bedanke mich recht herzlich, auch für den Mut. Ich glaube ja, dass das ganz, ganz viele Frauen erlebt haben, aber die wenigsten melden sich. Es ist natürlich auch okay, wenn man das in sich begrabt, aber andererseits als Erfahrung, als Lehre, als Aufforderung, wach zu bleiben, ist es doch wichtig, dass man manches Mal in die Vergangenheit zurückblickt und weiß, wie das Leben früher war. Das war ja doch extrem bestimmt. Ich glaube, ein bisschen was hat sich in der Zwischenzeit schon geändert, hoffentlich.

Ilse B.

Ich denke schon, dass sich sehr viel geändert hat.

Steiner

Gewisse Strukturen sind noch immer da, oder?

Ilse B.

Ich weiß es nicht mehr. Dieser Bereich existiert ja für mich sozusagen nicht mehr. Nein, es betrifft mich nicht mehr, sagen wir so. Ich muss mir darüber keine Gedanken mehr machen. Das ist ein Vorzug des Alters, würde ich sagen.

Steiner

Dass man nicht mehr für alles zuständig ist, oder?

Ilse B.

Ich geniere mich fast ein bisschen, das zu sagen. Wie sage ich denn das am besten? Das Geschlechtsleben sozusagen hat bei mir ein Ende gefunden. Ich weiß von Freundinnen, dass das bei denen nicht der Fall ist, aber bei mir ist es der Fall, und ich empfinde das als ungeheure Erleichterung. Ich kann mich endlich anderen Dingen zuwenden. (Lacht.) Es klingt komisch, ja, aber für mich war das immer ein Ballast. So sehr ich das mochte, so sehr war es ein Ballast. Ja, das klingt ein bisschen komisch.

Steiner

Aber Sie haben es eh richtig gemacht, das passt schon. Sie haben den Aufruf jetzt über das Forum über das Internet?


Ilse B.

Nein, nein, ich bekomme diese, wie nennt man so etwas, ich bekomme per E-Mail immer die Nachrichten vom Bruno Kreisky Forum, weil ich dort. Ach Gott, Corona hat das alles unmöglich gemacht. Ich hab, ich glaube, erst vor vier oder fünf Jahren davon erfahren, dass es das gibt. 0-1

Steiner

In der Armbrustergasse.

Ilse B.

In der Armbrustergasse, genau. Ich war einmal dort, und dann war es nicht mehr möglich.

Steiner

Na, geh, so ein schöner Garten. Ich habe dort Akademikertraining gemacht in dem Haus vor vielen, vielen Jahren. Jetzt bin ich im Archiv, das ist in der Rechten Wienzeile.

Ilse B.

Im Archiv von?

Steiner

Im Kreisky-Archiv. Kreisky Forum und Kreisky-Archiv, im Forum hat er gewohnt und im Archiv, dort wo die "Arbeiter-Zeitung" gedruckt worden ist, da ist der politische Nachlass und der persönliche Nachlass von Kreisky, der ja kein großer Fan der Fristenlösung war. Das haben ihm die Frauen 1972 wirklich am Parteitag eingeredet, haben ihm gesagt, so, jetzt müssen wir.

Ilse B.

Das weiß ich gar nicht. Jetzt geht es nicht mehr.

Steiner

Er hat ein bisschen den Konflikt mit der katholischen Kirche gescheut.

Ilse B.

Aber mir war das gar nicht bewusst. Schauen Sie, so unpolitisch war ich Zeit meines Lebens, dass ich das einfach gar nicht weiß.

Steiner

Na, na, das war ein Überzeugungsprozess. Christian Broda war da sehr dahinter, Johanna Dohnal, Irmtraut Karlsson, also da waren bestimmte Leute, die wirklich gesagt haben: Das muss jetzt sein.

Ilse B.

Das muss jetzt sein.

Steiner

Er selber, ihm war das nicht so ein Anliegen.

Ilse B.

Und was machen Sie in diesem Forum?

Steiner

Das Forum macht Veranstaltungen, und im Archiv betreuen wir Journalisten, Studenten. Da werden auch Forschungsprojekte, so wie dieses gemacht. Dann haben wir zum Beispiel jetzt die Ausstellung 100 Jahre Frauenwahlrecht im Volkskundemuseum gemacht, 100 Jahre Frauentag davor. Ausstellungen werden gerne gemacht, Publikationen. Ich bin jedenfalls für das Archiv zuständig. Was ich sehr gerne mache, ist, wenn Leute aus vergangenen Zeiten etwas suchen. Ich selber hab Geschichte und Theaterwissenschaft gemacht und bin eben von Innsbruck nach Wien. Ich glaube, man hört das eh noch.

Ilse B.

Man hört es, klar.

Steiner

Und jetzt bin ich auch schon lange hier, über 30 Jahre liebe ich Wien.

Ilse B.

Genau das Doppelte, ich bin ja, wie gesagt, seit 60 Jahren in Wien. (Lacht.) Lustig.

Steiner

Es ist einfach eine gute Stadt.

Ilse B.

Ja, es ist immer besser geworden.

Steiner

Ja, finde ich auch.

Ilse B.

Sehr viel besser. Es war nicht schön, es war in den Sechzigerjahren absolut grauslich.

Steiner

Obwohl, da die Villen, das muss ja eigentlich gleich geblieben sein?

Ilse B.

Nein, gauslich bezieht sich einerseits auf den hässlichen Aspekt. Es war wirklich hässlich, so grau und schmutzig und noch Nachkriegszeit, aber vor allem auch auf diese Enge. Es war so eng. Die Villen da heraußen, mein Gott, da hat es einen Eislaufplatz gegeben, einen Tennisplatz. Da waren Schrebergärten, da war eine wilde Gstätten, da war der Lagerplatz für die Pflastersteine. Auf der Peter-Jordan-Straße konnte man gar nicht gehen, da ist man so drübergegangen. Ja, das war schön, der Flieder hat geblüht im Frühjahr, wunderbar. Doch, man hört natürlich, dass Sie aus Tirol sind, klar.

Steiner

Ja, mein Vater war auf der Boku. Ich hab heute an ihn gedacht, wie ich da gestanden bin.

Ilse B.

Ah, der war auch auf der Boku, so wie mein Vater.

Steiner

Wasserverbauung oder was der gelernt hat. Aber das ist auch ein schönes Backsteinhaus, das gefällt mir gut.

Ilse B.

Ja, ja, natürlich.

Steiner

Viele aus den Bundesländern, die erste Station für Leute, die auf der Boku sind, ist diese Gegend da. Das ist ja auch witzig. Ich war eben auf der Theaterwissenschaft in der Hofburg neben den Sisi-, Kaiserappartements. Das war auch schön.

Ilse B.

Meine verstorbene Freundin hat Theaterwissenschaft studiert, noch unterm Kindermann. Entsetzlich! Das kam ja dazu, dass ja die meisten Professoren alte Nazis waren. Das war schrecklich, es war wirklich schrecklich! Der Professor für neue Literatur, das Neueste, was der gebracht hat, war Rilke. Oh Gott!

Steiner

Das haben Sie sich sozusagen alles selber erarbeiten müssen, was Sie interessiert hat?

Ilse B.

Das gab es auf der Uni nicht. Ich bin nie auf die Idee gekommen, einmal zu sagen, okay, ich geh weg. Nein, ich hätte auch meinen Eltern erklären müssen, bitte zahlt mir mehr, damit ich zum Beispiel nach Frankfurt oder nach Berlin gehen kann, aber das wollte ich dann auch nicht. So viel Geld hat mein Vater nicht gehabt. Das war nicht so. Entschuldigung, man kommt von einem ins andere.

Steiner

Danke vielmals. Sie haben gesagt, Sie gehen dann?

Ilse B.

Ich gehe zu meiner Schwester, ja. Ich weiß gar nicht, wie spät es ist. Es ist viertel 10?

Steiner

Ja genau.

Ilse B.

Ah, dann war das gar nicht so lang. Mir ist das jetzt entsetzlich lang vorgekommen.

Steiner

Ja, das ist aber auch etwas, was einfach anstrengend ist. Sie haben jetzt über eine Stunde gesprochen.

Ilse B.

Das bin ich ja gewohnt gewesen.

Steiner

Sie sind keine Lehrerin mehr, das macht schon…

Ilse B.

Ja, das hat mir nie Mühe gemacht.

Steiner

Das Sprechen?

Ilse B.

Nein.

Steiner

Ich bedanke mich herzlich.

Ilse B.

ja, ich danke Ihnen.

Steiner

Wenn Ihnen jemand einfällt oder wenn Sie wem begegnen, einer Frau, die das auch erzählen will, dann kontaktieren Sie mich gerne.

Ilse B.

Ja, ich werde das weitergeben, gut.

Steiner

Bitte, vielleicht im Kollegenkreis oder was auch immer.

Ilse B.

Ja, werde ich weitergeben.