Vor der Fristenregelung > Interviews mit Zeitzeuginnen > Anna R.

Anna R. meldete sich nach dem Aufruf des Kreisky-Archivs, um von ihrem Schwangerschaftsabbruch bei einem Wiener Urologen 1970 zu erzählen. Es viel ihr aber sichtlich schwer, darüber zu sprechen: Sie wurde direkt danach von einem vermeintlichen Freund, der sie von der Ordination abholte, vergewaltigt. Anna R. arbeitete bis zu ihrer Pensionierung als Sozialarbeiterin und in der Behindertenhilfe. Das Interview mit Anna R. wurde am 30. September 2022 im Kreisky-Archiv geführt, anonymisiert und gekürzt. Transkript Maria Steiner.

Steiner

Sie haben am Telefon etwas ganz wesentliches gesagt, nämlich: „Es ist ja verjährt.“ Möchten Sie dazu etwas sagen?

Anna R.

Ja. Ich bin erleichtert, dass es verjährt ist, weil ich hab gestern meinen Mann gefragt, ob es verjährt ist, und er hat gesagt ja, es ist verjährt. Und er hat nicht gelacht oder was, weil ich so eine blöde Frage stelle, sondern [zögert] es ist einfach verjährt. Es kann also nix mehr passieren.

Steiner

Ja, aber jetzt muss ich nachfragen: Hatten Sie Angst, dass Sie noch einmal belangt werden könnten?

Anna R.

Ja, naja, einfach zur Sicherheit. Ich hab keine Angst mehr oder was, einfach zur Sicherheit.

Steiner

Ja.

Anna R.

Also nicht wegen dem Interview jetzt, sondern einfach zur Sicherheit wollte ich das wissen.

Steiner

War die Angst damals ein so bestimmendes Gefühl in der Zeit?

Anna R.

Ja sicher. Sicher.

Steiner

Können Sie mir das beschreiben?

Anna R.

Ja, ich kann auch mein Elternhaus beschreiben.

Steiner

Bitte.

Anna R.

[Erzählt von ihren Eltern: Ihre Mutter war deutsche Staatsbürgerin, ihr Vater überlebte als „Halbjude“ im Sinne der „Nürnberger Rassegesetze“ den Zweiten Weltkrieg mit Hilfe ihrer Mutter versteckt in Wien und konnte danach sein Medizinstudium beenden. 1949 wurde Anna R. geboren. Übersiedlung nach B., wo der Vater als Gemeindearzt und die Mutter in der Ordination arbeitete. Anna R. studierte in Wien, im Alter von 20 Jahren lernte sie einen bereits verheirateten Mann kennen, von dem sie schwanger wurde].

Anna R.

Ich hab dann den H. kennengelernt, und der ist dann zu meinem sogenannten Kindesvater geworden. Und dann ist halt…ich meine, er hat mir geschworen, er passt auf und mir war das wurscht, ich habe da gar nicht daran gedacht, dass man da ein Kind kriegen kann…ich meine, schon gewusst und so, aber wenn er aufpasst. Ich hab mir gedacht: wird schon passen.

Steiner

20 waren sie damals?

Anna R.

20, ja. Von 19 bis 22. Er war 44. Genau doppelt so alt. [Seufzt] Gut. Mit dem bin ich dann gegangen, also, mit dem bin ich dann zusammen gewesen und…mein Vater hat das nicht gewusst, aber mein [jüngerer] Bruder hat es gewusst, und der wollte ein bisschen schimpfen und so. Der hat es mir dann nicht ausgerichtet, wenn der H. angerufen hat und so, das war ein bisschen unangenehm. Mein Bruder war dagegen [gegen ihre Beziehung mit H.], aber ich hab ihn [H.] damals geliebt ganz am Anfang, da war ich halt verliebt, wie das halt so ist, und das war ein bisschen eine Großvaterfigur für mich, nicht Vaterfigur, sondern Großvaterfigur. Und ich hab dann in Wien studiert, Psychologie, aber nicht fertig, und dann bin ich nach Salzburg gegangen.

Anna R.

Ja. Und jetzt kommen wir zur langsam zur Abtreibung.

Steiner

Bitte.

Anna R.

Ich habe in Wien gelebt, und eines Tages bin ich halt schwanger geworden, und dann bin ich noch, weil das damals schon ausgemacht war, das war Ostern 1970, da bin ich noch zusammen mit meinem Cousin und einem Freund von H. nach Paris gefahren, da ist es schon losgegangen, der hat mich abgetatscht und hat gesagt, gehen wir in meine Wohnung, und ich hab Null Lust gehabt, Gott sei Dank, den hab ich abgewehrt. [Pause] Und dann bin ich wieder heim und dann bin ich zu einem Frauenarzt gegangen und der hat gesagt ich bin schwanger, und dann hab ich den H. angerufen und habe gesagt ich bin schwanger, und seine erste Reaktion war „Von wem?“. Ist ja auch nett. [Pause] Ich hab ihn damals nicht betrogen, überhaupt keine Red ist davon gewesen. Und dann haben wir eine Konferenz gemacht, ich war ja damals noch nicht volljährig, war ja mit 21 damals.

Steiner

Ach, ja.

Anna R.

Ja, aber das ist nicht besprochen worden wegen der Volljährigkeit, damals. Ich bin damals heimgekommen und hab gesagt, Mutti, ich bin schwanger, sagt sie: „Reg dich nicht auf. Komm, setz dich her, wir werden schon eine Lösung finden, setz dich her, brauchst nicht weinen, wir finden was.“ Und so. Also hat mich total getröstet. Und dann war die Konferenz, wo sie natürlich gefragt hat: „Von wem hast es denn?“. Und dann…also meine Mutter war schon eine tolle Frau. Also, die war schon super, in allen schlechten Lagen hat sie mich immer aufgeheitert.

Steiner

Und unterstützt auch.

Anna R.

Jaja. Und bei der Konferenz ist dann herausgekommen, er will das Kind, ich nicht und meine Mutter auch nicht. Dann war klar. Er wollte es deswegen, weil seine Frau gerade eine Abtreibung gemacht hat, die er ihr aufgezwungen hat, seine Frau wollte unbedingt das Kind haben, die haben vier Kinder gehabt, sie wollte das Kind unbedingt haben, und er hat gesagt nein, und sie hat dann in L. eine Abtreibung machen müssen, das sie mir dann später erzählt. Das erzähl ich Ihnen dann vielleicht später, diese Begegnung.

Steiner

Ja gern. Das war aber später?

Anna R.

Jaja. Viele Jahre später. Jedenfalls er hat mir 6.000 Schilling gegeben, 6.000 hat das gekostet und ich hab vorher mich erkundigt bei meinen Freundinnen, wo man abtreiben kann, eine Freundin gefragt, von der ich gewusst habe, dass die eine schon abgetrieben hat und die haben mir beide diesen Arzt genannt, die beiden Freundinnen. Und sie haben mir gesagt, du musst einen falschen Namen sagen, haben mir auch schon gesagt, wie das dort ist und so. Und dann hab ich jemanden gesucht der mich hinführt mit dem Auto, ich hab keine Ahnung gehabt wo das ist, das war im 12. Bezirk. Und da hat es jemandem gegeben, der T., der sogenannte Freund, der hat sich sofort bereit erklärt, dass er mich hinführt und dann auch wieder abholt, weil ich habe gewusst, ich werde eine Narkose kriegen. Also den hab ich zuerst anrufen müssen, den Arzt, einen Termin ausmachen, und der hat dann gesagt, kommst am Freitag um 10 oder was, und da bin ich dann hin und die ganze Ordination war stockdunkel. Das war eine alte Ordination, der war Urologe und hat gesagt: „Ich habe auch einen Anästhesisten da, den dürfen Sie aber nicht anschauen, der begrüßt Sie, guten Tag.“ Und ich sage auch „Guten Tag“, hinter mir ist der gewesen und der abtreibende Arzt ist so vor mir gestanden, weil der andere gehört ja hinten hin wegen dem Schlauch usw. Und ja, ich hab eigentlich gar keine Angst gehabt, und …nur es war halt sehr, dieses Geheimnis war halt sehr… Und der T. hat mich gefragt: „Was hast denn, was ist denn?“, aber ich habs nicht sagen dürfen, weil der H. war verheiratet und hat vier Kinder gehabt, also hab ich das nicht sagen dürfen und schon gar nicht von der Abtreibung reden dürfen.

Steiner

Und darf ich noch zwischenfragen, das mit dem falschen Namen, war das bekannt, dass die Ärzte das nicht wollen, dass man seinem echten Namen sagt?

Anna R.

Ich habe einen anderen Namen sagen müssen.

Steiner

Mhm.

Anna R.

Ich hab den Arzt am nächsten Tag angerufen unter dem falschem Namen und hab gesagt Sie wollten wissen, es geht mir gut, oder keine Ahnung, was ich gesagt hab. Also jedenfalls nicht, dass ich inzwischen vergewaltigt worden bin. Und dann… jedenfalls 5.000 hat es gekostet, 1.000 hat er mir erlassen, weil Ostern ist und dann hat er gesagt, legen Sie sich jetzt hin, weil die Narkose noch ein bissl aus… und dann hab ich mich hingelegt und geschlafen und dann habe ich den T. angerufen und gesagt jetzt kannst kommen mich abholen und er hat dann gefragt: „Wieso hat denn das so lang gedauert?“ und ich hab gesagt ja, weil ich so lang warten hab müssen. [Seufzt] Und dann hat er mich abgeholt und wir sind gefahren in das Studentenheim, in dem ich gewohnt habe…

Steiner

Da hat er Sie hingebracht.

Anna R.

Ja.

Steiner

Durften da Burschen überhaupt mit aufs Zimmer?

Anna R.

Nein. Natürlich nicht. Aber das war nicht so streng. Aber das ist ihm auch wurscht gewesen, weil ich werd ja bestraft, ihm kann ja eh nichts passieren. Und dann geht er mit rauf und ich hab gesagt: „Nein, brauchst nicht mit raufgehen, ich bin müd und möchte schlafen.“ Und er hat halt diese üblichen…ich weiß gar nicht mehr, was er alles geredet hat und ja, dann hat er mich aufs Bett geschmissen und hat mich vergewaltigt. Ich weiß noch, ich bin unter ihm gelegen und hab seine Schulter nicht weggekriegt. Ich hab das damals niemandem erzählen dürfen und können, wegen der Abtreibung und weil es eben verboten war, außer meiner Mutter natürlich. Und meine Mutter hat dann meine Tante geschickt, dass die ein bissl auf mich schaut, aber der habe ich es auch nicht gesagt [die Vergewaltigung]. Das hat eigentlich die Abtreibung so überschattet, dass ich eigentlich nie daran gedacht habe, dass ich jetzt ein Kind hätte, das 53 Jahre alt ist. Aber ich wollt´s nicht. Ich wollt nicht von dem Autoritären ein Kind haben…weil mit den Alimenten hängt das zusammen, dann muss ich den die ganze Zeit um mich haben…ich hab ihn [H.] dann nimmer mögen…Wenn ich irgendwas feministisches gesagt hab, hat er gesagt: „Welcher Mann hat dir denn das gesagt?“ So hat der geredet. Also unmöglich. Ich hab mir damals schon nichts gefallen lassen.

Steiner

Wenn ich das richtig verstehe, haben Sie sich dann stückweise befreit.

Anna R.

Ja. Ich habe dann eine Psychotherapie gemacht. Aber auch da hab ich von der Vergewaltigung nichts erzählt. Das war ja auch die Frage der Anzeige damals. Aber das war ja absurd. Die Polizei hätte mir nicht geglaubt, wenn ich die Vergewaltigung angezeigt hätte.

Steiner

Darf ich fragen, was war das Schlimmste für Sie an der Abtreibung?

Anna R.

Ja. Das schrecklichste bei dieser Abtreibung war die Vergewaltigung. Ich hab eigentlich um dieses Kind nie getrauert , nie, ich hab dann später ein Kind verloren im 7. Monat, und um dieses Kind hab ich wahnsinnig getrauert, gleich für drei.

Steiner

Aber ich finde das toll von Ihrer Mutter, dass sie Sie so unterstützt hat.

Anna R.

Ja. Natürlich. Ihr hab ich es auch sofort gesagt.

Steiner

Und ihre Mutter wird ja auch in der Ordination etwas von unerwünschten Schwangerschaften mitbekommen haben, nehme ich an?

Anna R.

Ja. Natürlich. Aber der Vater hat keine Abtreibungen gemacht. Ich weiß sogar eine, weil das Dienstmädel hat mir das erzählt. Da ist eine gekommen, verzweifelt, Witwe und schwanger von einem verheirateten Bauern von nebenan oder so irgendwas. Aber mein Vater hat keine Abtreibungen gemacht. Die Gegner der Abtreibung sagen immer die Abtreibung ist ein Mittel zur Geburtenkontrolle, das ist natürlich ein Blödsinn, kein Mensch macht eine Abtreibung aus Jux und Tollerei, das weiß man, wenn man eine gehabt hat.

Steiner

Ich möchte Sie noch fragen: Wie war das Bewusstsein, dass es ein verbotener Eingriff war, weil Sie am Anfang davon gesprochen haben, dass er verjährt ist, wie war das verankert im Bewusstsein der Frauen?

Anna R.

Ja. Sehr. Dass es verboten ist, war sehr verankert. Auch um den Arzt, der es gemacht hat, den darfst du ja nicht verraten. Das hat er mir auch gesagt und ich habe gesagt, ich verrate ihn nicht. Und ich habe eben den falschen Namen angegeben.

Steiner

Wieviel Prozent ihrer Freundinnen schätzen Sie haben abgetrieben?

Anna R.

Na fast alle!

Steiner

Fast alle.

Anna R.

Na, weil in der Zeit die Pille nicht so greifbar war! Wirklich viele. Es gab natürlich welche, die haben ein Glück gehabt. [Seufzt] Unser Dienstmädchen hat einmal abgetrieben mit der Stricknadel. Mein Vater ist dann hinunter und hat sie dann ins Krankenhaus geführt. Die hat selber solang herumgestochert bis sie so geblutet hat, dass sie es schon selber nimmer ausgehalten hat. [Seufzt]

Steiner

Und wie ist das ausgegangen, hat sie das überlebt?

Anna R.

Jaja. Das war eine unheimlich tatkräftige Frau.

Anna R.

Ich hab auch eine Freundin gehabt, die ist nach Zagreb gefahren, 3.000 hat das gekostet. Eine Abtreibung ohne Narkose, das war grauenhaft. Ich hab ja eine Luxusabtreibung gehabt, mit Narkose, mit Anästhesisten, nur halt strengstens geheim.

Steiner

Nach Zagreb ist man ausgewichen wegen dem Preis?

Anna R.

Natürlich, wegen dem Preis.

Steiner

Und als dann die Fristenlösung 1975 beschlossen war, wie war das dann in Salzburg?

Anna R.

Alle nach Wien. Salzburg ist ja stockkonservativ.

Steiner

Also die Option war immer noch, nach Wien zu fahren?

Anna R.

Ich glaub schon.

Steiner

Ja, dann vielen Dank, ich bedanke mich sehr herzlich für das Gespräch!